Die politischen Spannungen verschärfen sich wieder im Osten Europas. Wie vor einigen Monaten bereits sorgt eine ungewöhnlich hohe Ansammlung an russischen Truppen an der ukrainischen Ostgrenze nicht nur in Kiew, sondern auch in anderen europäischen Staaten für zunehmendes Unbehagen. Längst wird davor gewarnt, dass der russische Präsident Wladimir Putin Pläne habe, in die Ukraine einzumarschieren. Kiews Verteidigungsminister Oleksi Resnikow ging am Freitag davon aus, dass dies Ende Januar der Fall sein werde. Auch US-Außenminister Antony Blinken will „Beweise“ für „erhebliche aggressive Schritte“ der Kremlführung gegen die einstige Kornkammer der Sowjetunion haben. Bei solchen Gewissheiten ist allerdings Vorsicht geboten, denn die Geschichte lehrt uns, dass so manch sichere „Beweise“ im Laufe von Konflikten gegenstandslos verpuffen können. Man erinnere sich an Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen.
Ebenso wenig sollten jedoch die Beteuerungen der Kremlführung für bare Münze genommen werden, ein Einmarsch in die Ukraine stehe nicht an. Damals gab Putin ebenfalls an, nicht zu wissen, von wo die „grünen Männchen“ herkamen, die 2014 schwer bewaffnet die Krim besetzten, die Russland anschließend annektierte.
Putins Säbelrasseln ist wohl darauf ausgelegt, die USA an den Verhandlungstisch zu bringen, um diesen zum einen das Versprechen – und dieses Mal in schriftlicher Form – abzuringen, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied wird. Zum anderen will Moskau, wie der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte, langfristige Sicherheitsgarantien für die Westgrenze Russlands. Grundsätzlich wäre es gut, wenn sich die USA und Russland, allerdings gemeinsam mit den EU-Staaten, an einen Tisch setzen würden, um ein umfassendes Sicherheitsabkommen für den Osten Europas auszuhandeln. In dessen Zuge ebenfalls der Konflikt im Donbass gelöst werden könnte. Doch es ist keine gute Idee, dies mit der Androhung einer Invasion der Ukraine herbeizwingen zu wollen. Vor allem, wenn es doch sehr unwahrscheinlich ist, dass diese Drohung auch umgesetzt wird. Denn die zu erwartenden Reaktionen, nicht nur in Form erheblicher Wirtschaftssanktionen, würden Russland enorm schaden.
Allerdings besteht weiterhin ein wesentliches Problem. Die Kremlführung geht wie zu Sowjetzeiten immer noch davon aus, dass sie von Nachbarstaaten ein gewisses Verhalten verlangen kann. Das mag im Falle des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko aus bekannten Gründen funktionieren. Doch haben die Ukrainer mit dem „Euromaidan“ 2013/14 gezeigt, dass sie eine Einmischung insbesondere aus Moskau nicht mehr wollen.
Ohnehin, welche Gegenleistungen hat Putin für seine Forderungen anzubieten? Welche langfristigen Sicherheitsgarantien kann er beispielsweise der Ukraine anbieten, wenn diese künftig auf eine Mitgliedschaft in der nordatlantischen Allianz verzichten soll? Die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine durch die Russische Föderation? Dieses Versprechen gab Moskau der Ukraine bereits im Budapester Memorandum im Jahr 1994, als Kiew, damals die drittgrößte Atommacht, im Gegenzug sein gesamtes Nukleararsenal an Russland abtrat. Putin hat sich jedoch mit der Annektierung der Krim und der Unterstützung der Rebellen im Donbass als unzuverlässiger Vertragspartner erwiesen. Er hat demnach nichts Bedeutendes anzubieten. Das muss dem Kremlherrn deutlich gemacht werden, sollte aber kein Hindernis sein, nach Lösungen für die sicherheitspolitischen Interessen aller in Europa zu suchen.