Putin macht Litauen und Deutschland als Schwachpunkte der Nato aus. Doch die haben das Glück, Verbündete zu haben und ihnen vertrauen zu dürfen. Ein Kommentar. Christoph von Marschall
Es kann einem Angst werden angesichts der rhetorischen Eskalation. Moskau wirft Litauen „feindselige Handlungen“ vor, weil es die EU-Sanktionen gegen Russland auf den Warenverkehr zwischen Russland und seinem Außenposten Kaliningrad über litauisches Territorium anwendet.
Ja, was denn sonst? Litauen ist keine Sowjetrepublik mehr, sondern ein souveräner Staat und Mitglied in EU und Nato. Natürlich setzt es die Sanktionen durch. Russland droht nun mit „Handlungen zum Schutz der nationalen Interessen“.
Wie groß ist die Gefahr, dass aus dem Krieg der Worte ein heißer Konflikt wird: die Ausweitung der Kämpfe in der Ukraine zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato? Im Westen sagen alle, von Kanzler Olaf Scholz bis US-Präsident Joe Biden, dass sie dies unbedingt verhindern wollen. Aber gilt das auch für Wladimir Putin?
Droht er nur, weil er spekuliert, er könne westeuropäische Gesellschaften damit – wie auch mit dem gelegentlichen Hinweis auf Atomwaffen – in Angstzustände versetzen und so ihre Regierungen zu Appeasement zwingen? Oder meint er es ernst?
Der EU und der Nato bleibt nichts anderes übrig, als beide Möglichkeiten ernst zu nehmen und Vorkehrungen zu treffen. Putin müsste einerseits den Verstand verloren haben, wenn er kalkuliert, er könne einen Krieg gegen die Nato gewinnen.
Andererseits ist der Suwalki-Korridor – die schmale Landbrücke, die das Nato-Gebiet in Polen mit dem in Litauen verbindet – die strategische Schwachstelle an der Ostflanke der Allianz. Östlich davon stehen russische Truppen in Belarus, westlich russische Truppen in Kaliningrad. Greift Russland dort an, um Litauen von Nato-Gebiet abzuschneiden und den unkontrollierten Güterverkehr von Russland nach Kaliningrad zu erzwingen, wäre die Verteidigung schwer.
Die Abschreckung der Nato beruht auf der Drohung, dass sie verlorenes Gebiet mit ihren überlegenen Kräften zurückerobern würde. Dafür muss sie allerdings Truppen dorthin verlegen.
Bis dahin liegt die Hauptlast auf Litauen – und auf der Bundeswehr. Deutschland ist die Führungsnation in der Nato für die Verteidigung Litauens. Und das Bundeswehrkontingent dort ist der Kern der Strategie.
Putin hat in der Vergangenheit immer wieder die Tendenz erkennen lassen, an der Entschlossenheit des Westens zu zweifeln. Er setzt auf Drohungen – im Extremfall apokalyptische Szenarien wie den Atomwaffeneinsatz –, und hofft, der Westen werde trotz seiner Überlegenheit einlenken.
Bei einigen Verbündeten, gerade im Osten, geht die Sorge um, die Deutschen seien besonders empfänglich für diese psychologische Kriegsführung. Und würden als erste einknicken. Das wichtigste Mittel, das Deutschland, der Nato und der EU zur Kriegsprävention bleibt, ist, ihre Entschlossenheit zu bekräftigen. Und die verbliebenen Gesprächskanäle nach Moskau dafür zu nutzen.
Die Nato hat es leichter als bei Kriegsbeginn, Moskau schwerer
Die Entwicklungen seit Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar machen die Dinge für sie leichter. Und für Putin schwerer. Schon damals befürchteten einige, sein nächstes Ziel sei das Baltikum, falls seine Truppen die Ukraine ohne größeren Widerstand überrennen.
Seither hat Deutschland seine Einheiten in Litauen verstärkt. Und die Nato ihre schnelle Eingreiftruppe. Die erfolgreiche Gegenwehr der Ukrainer hat die Schwächen der russischen Streitkräfte aufgezeigt.
Der Beitritt Finnlands und Schwedens zur Allianz ist ein großer Sicherheitsgewinn für die baltischen Staaten. Sie sind nicht mehr ein verwundbarer Appendix der Allianz, sondern erhalten auch im Norden direkten Anschluss an Nato-Gebiet. In der neuen Lage wäre ein russischer Vorstoß auf Litauen selbstmörderisch. Er würde zudem für die russische Führung die Frage aufwerfen, wie sie Kaliningrad verteidigen will.
Den Verlust jeglichen Vertrauens hat Kreml-Sprecher Dmitri Peskow als Kern der Konflikte benannt. Das gilt auch umgekehrt. Deutsche, Litauer und andere Alliierte dürfen dankbar sein, dass sie in der Gefahr Verbündete haben. Russland hat keine. Der Vorteil kommt freilich erst dann voll zum Tragen, wenn auch Putin glaubt, dass Nato-Länder auf die Beistandszusage blind vertrauen dürfen.