Das bleibt von Sebastian Kurz

Der einst so bestaunte politische Wunderknabe tritt von der politischen Bühne ab. Er hinterlässt ein verwundetes und gespaltenes Land und eine schwer angeschlagene Volkspartei.

Also doch nicht mehr als 10 Jahre: In seiner kurzen Abschiedsrede erinnerte Sebastian Kurz noch einmal daran, dass er einst angekündigt hatte, er wolle nie länger als eine Dekade Politiker sein. „Es gibt so viel Schönes abseits der Politik“, vor allem, wenn man gerade Vater geworden sei, erzählte er. Das Gefühl, „gejagt zu werden“, habe seine Begeisterung für die Politik zuletzt eingebremst. Er wolle alle Vorwürfe vor Gericht aufklären. Er sei weder „Heiliger noch Verbrecher“.

Vom Wunderkind zum Paria, in nicht einmal fünf Jahren: Die Karriere des Sebastian Kurz war so steil wie ungewöhnlich. Und wie es bei vermeintlichen Heldenfiguren wie ihm so ist, stürzen sie nicht alleine, sondern ziehen auch ihr Umfeld mit in den Abgrund.

Es gibt noch keinen einheitlichen Begriff für die Affäre, die Kurz politische Karriere so abrupt beendete. Wikipedia nennt sie die „ÖVP-Korruptionsaffäre“, andere Medien sprechen von der „Chat-Affäre“ oder der „Österreich-Affäre“. Der Skandal, der Kurz zu Fall brachte, spielt sich im Bermudadreieck rechtspopulistischer Politik ab: zwischen Parteiinteressen, Staatsmacht und Medienwillfährigkeit. Das macht seinen Abgang zu einer Zäsur – für die ÖVP, mehr noch für Österreich und sein reformbedürftiges polit-mediales System.

Kurz galt als Prototyp dafür, wie sich konservative Volksparteien einer smarten Frischzellenkur unterziehen und sich so vor dem Fall in die Bedeutungslosigkeit retten. Kurz war schneidig, fesch, entschlossen, politisch klar rechts blinkend, dabei aber stets artig und manierlich – schließlich wollte man nicht nur vom Proletariat gewählt werden, das von den Arbeiterführern der Sozialdemokratie und den Freiheitlichen enttäuscht war, sondern auch vom Bürgertum.

Unter Kurz kam die ÖVP regelmäßig weit über 30 Prozent, das sind Traumwerte in einer zersplitterten Parteienlandschaft. Von Berlin und München aus blickte man nach Wien und fragte sich: Wie macht das der ­Sebastian nur? Ohne ihn ist die ÖVP wieder auf den Status Quo Ante zurückgeworfen: irgendwo bei 20 Prozent, geführt von einem Partikularinteressen verfolgenden Landeshauptleutekollektiv. Die Chance auf eine Mehrheit links der Mitte in Österreich aus SPÖ, Grünen und Neos war seit den 1970er Jahren nicht mehr so groß. Kurz’ Aufstieg und Fall sollte allen Parteien eine Warnung dafür sein, was passiert, wenn konservative Parteien sich einem rechtspopulistischen Anführer unterordnen.

Verhaberung und Inseratenkorruption

Mit Kurz’ Ende wird auch klarer sichtbar, wie korrumpiert Österreichs politisches System ist. Die ÖVP ist seit über 35 Jahren an der Regierungsmacht. Kurz verstand es, die alte Tante ÖVP aufzuschminken. Auf die alte Volkspartei – Parteifarbe schwarz – stülpte er seine Jungmänner-Bewegung in der Signalfarbe türkis. Den so geschaffenen Hybrid taufte er „neue Volkspartei“. Das klang modern und schick und ließ vergessen, dass die ÖVP im Bund der ewige Juniorpartner war (mit zwei Ausnahmen, 2000 bis 2006 und seit 2017). In sechs von neun Bundesländern regiert sie, in Oberösterreich, Niederösterreich, Vorarlberg und Tirol ohne Unterbrechung seit dem Zweiten Weltkrieg. So viel Machtkontinuität lädt zur Korruption förmlich ein.

Am deutlichsten wird das in Österreichs polit-medialen System, mit seiner „Verhaberung“ und „Freunderlwirtschaft“, die ungesunde Nähe zwischen Politikern und Medienmachern und ihren Journalisten, geschmiert mit ungewöhnlich hohen Volumina an öffentlichen Inseratengeld. Auch deshalb trifft der Ausdruck „Österreich-Affäre“ vielleicht am besten diese Causa, die Kurz zu Fall brachte.

Geht man davon aus, dass Skandale eine reinigende Kraft haben, dass sie, wie der Soziologe Sighard Neckel es formuliert, die „Stellhölzchen der Macht“ durcheinander mischen und neu ordnen, dann stehen in Österreich mehr als nur Neuwahlen an, von der inzwischen fast alle politischen Beobachter im Jahr 2022 ausgehen.

Die staatspolitischen Defizite, die die „Ibiza-“ und die „Österreich-Affäre“ der kurzen Kanzlerschaft von Sebastian Kurz ­hervorbrachten, sind immens. Der Vergleich mit der „Mani pulite“-Bewegung Italiens („saubere Hände“: umfassende juristische Untersuchungen gegen Amtsmissbrauch und illegale Parteienfinanzierung in den 1990er Jahren) ist nicht zu hoch gegriffen.

Eine Hand wäscht die andere

Das aktuelle Anti-Korruptionsvolksbegehren gibt die Richtung vor. Ganz oben steht eine Reform der Parteienfinanzierung. Parteien in Österreich bekommen die vermutlich höchste staatliche Förderung in Europa; gleichzeitig konnten sie bis vor Kurzem anonyme Spendengelder akquirieren, ohne darüber öffentlich Rechenschaft ablegen zu müssen. Wie viel eine Partei für ihren Wahlkampf ausgeben darf, ist zwar gesetzlich geregelt und begrenzt, aber Verstöße werden nur mit geringen Geldbußen geahndet. Unter ÖVP-Chef Kurz wurde das Wahlkampfbudget 2017 massiv überzogen – sein Wahlkampf wurde unfair geführt und die Öffentlichkeit darüber bewusst getäuscht. Bis zum Schluss der Kampagne hatten ÖVP-Spitzenpolitiker beteuert, sie hielten sich an die Wahlkampfkostenobergrenze.

Ebenfalls europaweit einzigartig ist Österreichs System der öffentlichen Inseratenbewirtschaftung, für das sich der Begriff „Inseratenkorruption“ eingebürgert hat. Die offizielle staatliche Medienförderung beläuft sich auf nur neun Millionen Euro im Jahr. Aber daneben hat sich eine indirekte, intransparente und vor allem völlig undemokratische zweite Geld­transferschiene ­etabliert: über Inserate, die von Ministerien, dem Kanzleramt und der Regierung über ausgelagerte Unternehmungen geschaltet werden.

Sebastian Kurz hat dieses System nicht erfunden, im Gegenteil, seine Wurzeln hat es in der von den Sozialdemokraten regierten Stadt Wien, die allein rund 20 Millionen Euro pro Jahr für Inserate ausgibt. Aber Kurz hat dieses System perfektioniert. Unter seiner Kanzlerschaft ab 2017 kombinierte er die Inseratenkorruption mit der sogenannten „message control“, einem rigiden PR-Agenda-Setting. Nahestehende Medien wurden wöchentlich mit den aus Sicht der ÖVP wichtigen Themen und fertig aufbereiteten Fact Sheets versorgt, sie wurden auch zu „Hintergrundgesprächen“ geladen. Kritische Medien – auch der Falter – blieben außen vor.

Wie weit der Wunsch nach Kontrolle und Medienlenkung ging, offenbarten dann die Anfang Oktober bekannt gewordenen Chat-Protokolle, die zu Hausdurchsuchungen in der ÖVP-Parteizentrale und bei hochrangigen ÖVP-Politikern und dann letztlich zum Sturz des Bundeskanzlers führten.

Aus den auf beschlagnahmten Handys rekonstruierten Gesprächen geht hervor, dass das engste Team um Kurz ab dem Jahr 2016 zuerst frisierte, für den damaligen Außenminister Kurz vorteilhafte Umfragen erstellen ließ und diese dann im Gratisblatt Österreich des Medienmachers Wolfgang Fellner platzierte – offenbar gegen Schaltung von Regierungsinseraten, wie die Justiz vermutet.
Umfragen und Gefälligkeitsberichte sollten mithelfen, Kurz als nächsten Parteichef einzusetzen und seine Fan-Base zu mobilisieren – und die damalige große Koalition zu destabilisieren. Bezahlt wurde all das laut Justiz zweckwidrig mit Steuergeld, das von einem von Kurz’ engsten Vertrauten, Thomas Schmid, dem Generalsekretär im Finanzministerium lockergemacht wurde. „So weit wie wir bin ich echt noch nie gegangen. Geniales Investment. Und Fellner ist ein Kapitalist. Wer zahlt, schafft an. Ich liebe das“, schreibt Schmid in einer Chat-Nachricht. Sie wurde zum Symbol für die Korruption des Systems Kurz.

Schönfärberei der Pandemie

Wenn auf der Hinterbühne anders gesprochen und gehandelt wird als auf der Vorderbühne, dann ist die Glaubwürdigkeit dahin. Ein Beispiel: Der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány hatte 2006 in einer internen Parteisitzung zugegeben, das Volk über Jahre belogen zu haben. Die Tonbandaufnahme gelangte an die Öffentlichkeit, es folgten gewalttätige Massenproteste, 2009 trat er zurück. Bei Kurz ging es schneller.

Das mediale Interesse an seiner Person war schon vorher überraschend schnell verschwunden. Das lag nicht allein an den frech frisierten Umfragen, dem strafrechtlich relevanten Tatbestand, den die Staatsanwaltschaft verfolgt. Sondern an den abgrundtiefen Sitten im Team Kurz, die durch die Chats öffentlich wurden. Sie strotzen nur so vor Fäkalsprache, Gehässigkeit, Misogynie. Da wurde unter anderem bekannt, dass Kurz seinen Vorgänger als Parteichef, Reinhold Mitterlehner, einen „Arsch“ genannt hatte. Über Medien und deren Arbeit wird ebenfalls unfein gesprochen.

Aber dass die Kurz-Partei ausgerechnet mit Österreich-Chef Wolfgang Fellner fraternalisierte, dessen Ruf in der Branche schon zuvor mehr als schlecht war, hat zum demonstrativen Desinteresse der anderen Redaktionen an Kurz’ Comebackplänen beigetragen. Es sind nur noch parteinahe Portale wie die jüngst gegründete und von Kurz-Spendern finanzierte Online-Plattform „Exxpress“, die Kurz’ Entlastungsversuchen in der Österreich-Affäre nach wie vor Platz geben.

Zu all dem kommt auch noch Österreichs katastrophales Pandemie-Management, für das ­Sebastian Kurz die Verantwortung trägt. Er hatte die Bekämpfung der Pandemie von Anfang an zur Chefsache erklärt, statt Fachleuten sprachen Minister zum Volk, die Verpolitisierung des Virus weckte noch mehr Misstrauen. Jetzt bekommt das Land die Rechnung präsentiert. Österreich hat die niedrig­ste Impfquote Westeuropas und musste Mitte November als erstes mitteleuropäisches Land erneut einen Lockdown verhängen.

Kurz hatte im Sommer noch vollmundig verkündet, die Pandemie sei für Geimpfte vorbei. Aus Rücksicht auf die Landtagswahlen in Oberösterreich Ende September wartete er mit der Einführung der 3G-Regel am Arbeitsplatz und 2G in der Gastronomie. Die Impfkampagne, die im Kanzleramt von einem seiner wichtigsten Mitarbeiter koordiniert wurde, gegen den die Staatsanwaltschaft in der „Österreich-Affäre“ ebenfalls ermittelt, machte im Sommer Pause. Dabei warnte der Expertenstab der Regierung eindringlich davor, dass Österreich für die Virensaison im Herbst nicht gewappnet sein werde, wenn das Impfen nicht voranschreite.

Kein Kommentar, der Kurz rückblickend nicht Versagen, Schönfärberei und falsche Versprechungen vorwirft – in einem Atemzug mit den konservativ geführten Bundesländern, die dank des Föderalismus viel Spielraum bei den Corona-Maßnahmen und dem Impfmanagement haben.

In der Pandemiebekämpfung versagt, beim Frisieren von Umfragen und beim Tricksen mit Parteiförderungen ertappt, am Ende nur ein Marketingtalent, aber kein Politiker mit einem Anliegen: Vom „neuen Stil“, den Kurz versprochen hat, ist am Ende nichts übrig geblieben.

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