Präsident Recep Tayyip Erdogan gehe es mit dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention um Machterhalt, kommentiert Karin Senz. Frauen und die LGBTI+-Szene müssten als neues Feindbild herhalten. Damit bediene der türkische Präsident seine nationalistische und konservative Wählerschaft.
Ankara hat Angst vor dem Regenbogen und vor modernen Frauen. Wenn es für die Betroffenen nicht so tragisch wäre, es wäre fast schon amüsant. Menschen mit Regenbogen-T-Shirts und lila Röcken, der Farbe der Frauenbewegung, scheinen eine der größten Gefahren in der Türkei zu sein – wenn man sich zum Beispiel den massiven Polizeieinsatz am vergangenen Wochenende anschaut, um das Verbot der Pride, also des Marschs der LGBTI+-Szene in Istanbul durchzusetzen. Polizeibeamte in schweren Kampfanzügen stehen etwas verloren in einem Kneipenviertel von Istanbul und schauen auf das Partyvolk. An anderer Stelle greifen sie ein, nehmen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Pride und einen Pressefotografen mit ziemlich ruppigen Methoden in Gewahrsam.
LGBTI+-Szene wird Freiwild
Was das mit der Istanbul Konvention zu tun hat, die ja Frauen vor Gewalt schützen soll? Der türkische Präsident selbst hatte schon im März, als er den Rückzug angekündigt hatte, über seinen Sprecher erklärt, das Abkommen werde von einer Gruppe von Menschen dazu missbraucht, Homosexualität zu normalisieren. Er schürt also Feindseligkeit gegen Schwule, Lesben oder auch Transsexuelle – eine Gruppe, die in viele Teilen der Türkei sowieso Zielscheibe war, damit aber praktisch Freiwild wurde. Und warum das alles?
Weil alles was fremd ist, Angst macht und konservative Türken Angst vor so viel buntem freizügigem Leben haben? Weil die heile Welt nur mit der Mutter am Herd am besten noch mit Kopftuch funktioniert, mit dem klassischen Familienbild?
Erdogan geht es um mehr – um Machterhalt. Er will seine nationalistische und konservative Wählerschaft weiter bedienen. Vor einem Jahr hat er die berühmte Hagia Sophia in Istanbul wieder zur Moschee gemacht. Aber der Effekt ist inzwischen verpufft. Spektakuläre Militäroffensiven in Nordsyrien sind gerade nicht angesagt. Also müssen jetzt vermeintlich aufmüpfige Frauen und die LGBTI+-Szene als Feindbild herhalten!
Druck auf Frauen nimmt wieder zu
Dafür riskiert er auch deren Leben. Denn nicht wenige traditionelle konservative türkische Männer scheinen Frauen immer noch als ihr Eigentum anzusehen. Das zeigen nicht nur hunderte Frauenmorde pro Jahr oft durch den Freund, Ehemann oder Ex-Mann, Vater oder Bruder, sondern auch zahlreiche Übergriffe. Das Signal an diese Männer: ihr habt das Recht dazu, Strafe müsst ihr nicht fürchten. Dass es auch ein nationales Gesetz gegen Gewalt an Frauen gibt, verblasst.
Der Druck auf Frauen nimmt wieder zu, allein schon durch Erdogans Parole, mindestens drei Kinder pro Familie zu zeugen. Ihr Körper gehört nicht mehr ihnen, wird zur Hülle für die Kinderproduktion. Das soll die Türkei 2021 sein? Da schaut sogar mancher aus Erdogans eigener Partei AKP beschämt auf den Boden. Ein Regierungsmitglied sieht sich sogar genötigt hinter vorgehaltener Hand klarzustellen, nicht alle würden hinter dem Rückzug aus der Istanbul Konvention stehen. Schade, dass sich keiner von ihnen traut, heute mitzulaufen, um zu zeigen, dass er keine Angst hat vor dem Regenbogen und vor den vielen modernen Frauen in der Türkei!